IAML Memories: Jürgen Diet

Photo of Jürgen DietThe following was originally published as "Vom Quereinsteiger zum IAML-Vorstand – Persönliche Eindrücke von meinem Weg im Musikbibliothekswesen" in Forum Musikbibliothek 43, no. 3 (2022): 49-52. It is printed here with kind permission. 

In den letzten 20 Jahren hat sich die Bibliothekswelt stark gewandelt. Mit den neuen technischen Möglichkeiten bei der Digitalisierung und Präsentation der Bibliotheksbestände und der Transformation der bibliothekarischen Geschäftsgänge in die Online-Welt sind in den Bibliotheken neben den klassischen bibliothekarischen Kenntnissen mehr und mehr auch technische Kenntnisse gefragt. Hierdurch ergeben sich Chancen für Personen, die mit technischen Kenntnissen als Quereinsteiger in das Bibliothekswesen wechseln. Ich möchte anhand meines Weges im Musikbibliothekswesen exemplarisch einen solchen Quereinstieg näher beleuchten.

Bis zu meinem achtzehnten Lebensjahr hatte ich den Wunsch, Musik zu studieren und den Beruf des Cellisten oder des Cello-Lehrers zu ergreifen. Dann habe ich mich kurz vor dem Abitur doch noch umentschlossen, habe in Karlsruhe Wirtschaftsingenieurwesen mit Fachrichtung Informatik studiert und 14 Jahre lang als Software-Entwickler und Software-Ingenieur gearbeitet. Rückblickend bin ich immer noch sehr zufrieden mit dieser Entscheidung, die Musik nicht als Broterwerb, sondern nur als Hobby gewählt zu haben. Am Beginn der 2000er Jahre kam bei mir aber der Wunsch auf, mein Hobby (die Musik) in meinen Beruf (die Informatik) zu integrieren. Hierfür wollte ich im Bereich Musikinformatik promovieren und dann versuchen, eine Professorenstelle an einer Fachhochschule zu bekommen. Es gab dafür im Jahr 2003 in Deutschland nicht viele potenzielle Doktorväter (bzw. Doktormütter). Zunächst habe ich mit Prof. Dr. Wolfgang Benn von der Technischen Universität Chemnitz zusammengearbeitet und bin dann einige Monate später zu Prof. Dr. Andreas Heuer von der Universität Rostock gewechselt. Ein Schwerpunkt von Prof. Heuers Forschungsgebiet sind Datenbanken, die auch bei mir sowohl beim Studium wie auch bei meiner Tätigkeit als Software-Ingenieur eine wichtige Rolle gespielt haben. Ich arbeitete mich in das Gebiet der Musikinformatik ein, besuchte einschlägige Tagungen, z.B. in den Jahren 2003 und 2004 das International Symposium on Music Information Retrieval (ISMIR)/2/ in Baltimore und in Barcelona, und hatte besonderes Interesse an digitalen Musikbibliotheken. Da lag es natürlich nahe, den Kontakt zu den Musikbibliotheken zu suchen. Da ich damals in Augsburg wohnte, ging ich in die Stadtbücherei Augsburg und traf dort Dr. Robert Forster in der Musikbücherei. Er hat mich in langen Gesprächen sehr unterstützt, mir viele wertvolle Hinweise gegeben und mir dringend geraten, mit AIBM Deutschland Kontakt aufzunehmen (so hieß die deutsche IAML-Ländergruppe damals). Die nächste AIBM-Jahrestagung sei im September 2003 in Rostock, und ich solle unbedingt daran teilnehmen.

Ich fuhr durch ganz Deutschland von Augsburg nach Rostock und habe 2003 zum ersten Mal eine AIBM-Jahrestagung besucht, auf der ich einige Personen getroffen habe, die meinen weiteren beruflichen Werdegang beeinflusst haben. Prof. Dr. Wolfgang Krueger amtierte in seinem letzten Jahr als Präsident von AIBM Deutschland und wurde bei den Vorstandsneuwahlen durch Susanne Hein abgelöst. Ich vereinbarte mit Prof. Krueger einen Besuch bei ihm an der Stuttgarter Hochschule der Medien (HdM), an der er das Fachgebiet Musikbibliothekswesen unterrichtete. Im Herbst 2003 trafen wir uns in seinem Büro in Stuttgart und sprachen lange über meine Ideen zu digitalen Musikbibliotheken. Er hat mich zu einem Beitrag in Forum Musikbibliothek ermuntert/3/ und engagierte mich als Gastdozent in einer seiner Vorlesungen. Als Prof. Krueger zum Ende des Sommersemesters 2007 in Ruhestand ging/4/, war es für ihn sehr schmerzlich, dass seine Stelle an der HdM nicht mit dem gleichen Profil wiederbesetzt wurde und somit das Fach Musikbibliothekswesen nicht mehr professoral im HdM-Lehrkörper vertreten war. Ab dem Wintersemester 2007/2008 wurden die musikbibliothekarischen Vorlesungen und Weiterbildungen an der HdM ausschließlich von Lehrbeauftragten unterrichtet, unter anderem auch von mir. Prof. Krueger konnte seinen Ruhestand leider nicht lange genießen. Er starb im April 2009 viel zu früh mit 66 Jahren./5/

Aber nun zurück ins Jahr 2004. Ich hatte inzwischen durch meine Teilnahme an zwei ISMIR-Tagungen einen guten Überblick über die internationale Forschung im Bereich der Musikinformatik. Zwei Leuchtturm-Projekte konnte ich während eines dreiwöchigen Forschungsaufenthaltes in den USA aus erster Hand kennenlernen: Das Variations2-Projekt an der Indiana University in Bloomington/6/ und das IMIRSEL-Projekt an der University of Illinois in Urbana-Champaign./7/

In Deutschland war ich auf der Suche nach Musikbibliotheken, die vielleicht Interesse an einer Kooperation mit meinem Promotionsprojekt haben könnten. Mit der Bayerischen Staatsbibliothek (BSB) lag bei mir um die Ecke eine bedeutende wissenschaftliche Bibliothek mit einem großen Sammelschwerpunkt im Fach Musikwissenschaft und der jahrzehntelangen Verantwortung für das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderte Sondersammelgebiet Musikwissenschaft. Es lag daher nahe, den Kontakt zur Musikabteilung der BSB zu suchen. Obwohl ich lange Jahre in München wohnte, kannte ich als studierter Informatiker die BSB mit ihren geisteswissenschaftlichen Sammelschwerpunkten bisher nur von außen. Im Jahr 2004 fand an der BSB ein Tag der offenen Tür statt. Ich besuchte während dieser Veranstaltung die BSB-Musikabteilung und drückte dem damaligen Abteilungsleiter (Dr. Hartmut Schaefer) meine Projektskizze zu digitalen Musikbibliotheken in die Hand. Dr. Schaefer konnte damit nicht viel anfangen; aber zum Glück hat er meine Skizze an das Referat Digitale Bibliothek weitergeleitet, wo Dirk Scholz damit beauftragt war, den Antrag der BSB an die DFG zur Virtuellen Fachbibliothek Musikwissenschaft (ViFaMusik) zu erstellen. Als dieser Antrag bewilligt wurde und das ViFaMusik-Projekt im Juli 2005 startete, engagierte mich die BSB mit einer halben Projektstelle für den technischen Bereich bei der ViFaMusk. Zunächst hatte ich noch vor, nebenher meine Promotion weiterzuführen. Nachdem im Februar 2006 jedoch mit PROBADO ein weiteres Projekt an der BSB losging/8/, an dem ich mit einer weiteren halben Stelle mitarbeitete, habe ich mein Promotionsprojekt aufgegeben.

Gleich in meinem ersten Jahr an der BSB fand im Herbst 2005 die AIBM-Jahrestagung in München statt. Der Haupt-Tagungsort war die Münchner Stadtbibliothek im Gasteig. Für die Sitzung der Arbeitsgruppe „Musikabteilungen an wissenschaftlichen Bibliotheken“ lud die BSB in ihre Musikabteilung ein. In der AG-Sitzung präsentierte die BSB unter der strengen Leitung von Dr. Schaefer einige ihrer wertvollen Musikhandschriften und alten Notendrucke aus dem Bestand der Musikabteilung.

Im Jahr darauf fand die AIBM-Tagung in Stuttgart statt. Dort gab es turnusgemäß Neuwahlen für den Vorstand und für die AG- und Kommissions-Sprecher*innen. Ich wurde gemeinsam mit Birgit Mundlechner von der Stuttgarter Stadtbibliothek zum Sprecher der Kommission für Aus- und Fortbildung gewählt. Dieses Amt habe ich nun schon seit 16 Jahren inne. Zu meinen Aufgaben gehört die Organisation der Sitzung dieser Kommission bei den jährlichen Tagungen und Lobby-Arbeit für die musikbibliothekarische Aus- und Fortbildung in Deutschland. Ich übe dieses Sprecheramt gerne aus, bin jedoch der Meinung, dass bei den nächsten Sprecherwahlen während der Jahrestagung 2024 eine erneute Wiederwahl nicht in Frage kommt.

Meine Teilnahme an den internationalen IAML-Kongressen begann im Jahr 2008 in Neapel. Prof. Krueger als damaliger Chair der IAML Commission of Service and Training hatte mich eingeladen, in der Sitzung seiner Sektion einen Vortrag über das PROBADO-Projekt zu halten. Das habe ich gerne gemacht und dabei zum ersten Mal viele interna-tionale Kolleginnen und Kollegen kennengelernt. Im Jahr 2008 begann auch meine 6-jährige Amtszeit als Sekretär der IAML Commission of Service and Training, das ist das internationale Pendant zur Kommission für Aus- und Fortbildung bei der deutschen IAML-Ländergruppe. Seither war ich bei jedem internationalen IAML-Kongress dabei. Die Finanzierung meiner Reisen zu den IAML-Kongressen erfolgte meistens mit Projektmitteln oder Hausmitteln der BSB, gelegentlich aber auch aus der eigenen Tasche.

Als sowohl das ViFaMusik-Projekt wie auch das PROBADO-Projekt ausgelaufen waren, wechselte ich in der BSB vom Referat Digitale Bibliothek in die Musikabteilung und erhielt endlich eine unbefristete Stelle. Die Unterstützung durch den Leiter der Musikabteilung (Dr. Reiner Nägele) ermöglichte mir mein weiteres Engagement bei IAML sowohl bei der deutschen Ländergruppe wie auch auf internationaler Ebene. Das war die Voraussetzung dafür, dass ich im Jahr 2012 eine Kandidatur als Präsident der deutschen Ländergruppe wagte. Ich wurde auf der Jahrestagung 2012 in Frankfurt als Präsident gewählt und im Jahr 2015 für eine weitere Amtsperiode bis 2018 wiedergewählt. Zusammen mit dem Präsidentenamt übernahm ich auch die Schriftleitung von Forum Musikbibliothek. Das war mir eigentlich zu viel; deshalb war ich sehr froh, dass ich Claudia Niebel von der Stuttgarter Musikhochschule zu einer gemeinsamen Schriftleitung überreden konnte. Wir waren ein gutes Team und haben 24 Ausgaben dieser Zeitschrift von Anfang 2013 bis Ende 2020 verantwortet. Von meiner Vorstandsarbeit bei IAML-Deutschland möchte ich besonders erwähnen:

– Die Organisation der IAML-Deutschland-Jahrestagungen in Zusammenarbeit mit dem jeweiligen Ortskomitee.

– Die Kooperationsvereinbarung zwischen der deutschen Ländergruppe und dem Verband der Musikschulen (VdM), die wir als „Nürnber-ger Erklärung“ bei der Jahrestagung 2014 mit dem damaligen VdM-Präsidenten Prof. Ulrich Rademacher unterzeichnet haben./9/

– Die Umbenennung der deutschen Ländergruppe von „AIBM Gruppe Bundesrepublik Deutschland“ in „IAML Deutschland“.

– Die Podiumsdiskussion zur Zukunft der öffentlichen Musikbibliotheken beim Bibliothekartag 2017 in Frankfurt.

– Den Messestand von IAML Deutschland bei der Musikmesse 2018 in Frankfurt.

– Das Überführen des bislang auf mehrere Standorte verteilten physischen Archivs von IAML Deutschland in die BSB-Musikabteilung.

Die Arbeit im IAML-Deutschland-Vorstand ist reizvoll, aber auch herausfordernd. Ohne die tatkräftige Unterstützung der anderen Vorstandsmitglieder wäre eine erfolgreiche Vorstandsarbeit nicht möglich gewesen. Zum Abschluss meiner Amtszeit als IAML-Deutschland-Präsident fand 2018 der internationale IAML-Kongress in Leipzig statt. Wir haben in Deutschland in diesem Jahr auf eine eigene nationale IAML-Tagung verzichtet und die Mitgliederversammlung von IAML Deutschland am Vortag des internationalen IAML-Kongresses in Leipzig abgehalten.

Durch meine regelmäßige Teilnahme an den internationalen IAML-Kongressen seit 2008 habe ich einen guten Einblick in die internationale Seite dieses Verbandes bekommen und Lust darauf, auf internationaler Ebene im Vorstand mitzuarbeiten. Ich habe bei den IAML-Vorstandswahlen im Frühjahr 2019 für das Amt des Vizepräsidenten kandidiert und wurde tatsächlich gewählt. Seither nehme ich an den IAML-Vorstandssitzungen teil. Die erste dieser Sitzungen fand im Februar 2020 im englischen Cambridge noch persönlich statt. Kurz darauf hielten wir alle Vorstandssitzungen coronabedingt in virtueller Form ab. Auch der jährliche Kongress konnte weder 2020 noch 2021 wie geplant in Prag stattfinden, sondern wurde ausschließlich online abgehalten. Erst im Juli 2022 konnte der IAML-Kongress wieder vor Ort in der tschechischen Hauptstadt stattfinden. Meine Aufgaben im IAML-Vorstand sind u.a. die Leitung des Forum of National Representatives, also der Gruppe der Präsident*innen aller IAML-Ländergruppen und die Durchführung und Auswertung der Umfragen nach den IAML-Kongressen. Mir macht die Zusammenarbeit mit den anderen Vorstandsmitgliedern großen Spaß. Es ist eine international zusammengesetzte Gruppe mit Vorstandsmitgliedern aus Dänemark, Deutschland, Großbritannien, Polen, Schweden, und den USA./10/

Während meiner Zeit als Präsident der deutschen IAML-Ländergruppe habe ich fast jedes Jahr an der Mitgliederversammlung des Deutschen Musikrates (DMR) teilgenommen. Der DMR ist der Dachverband für alle Bereiche des Musiklebens in Deutschland. IAML Deutschland ist eines der über 100 DMR-Mitglieder. Im Jahr 2017 habe ich bei der Präsidiumswahl des DMR erfolgreich als Präsidiumsmitglied kandidiert, obwohl die Vertreter von Musikbibliotheken im DMR bisher nicht besonders bekannt waren. Die vierteljährlichen DMR-Präsidiumssitzungen fanden hauptsächlich in Berlin und Bonn statt und seit dem Frühjahr 2020 ausschließlich im Online-Format. Die Wiederwahl ins DMR-Präsidium bei den turnusgemäßen Präsidiumswahlen im Herbst 2021 hat leider nicht geklappt. Für die 14 Präsidiumssitze haben sich 8 Frauen und 14 Männer beworben. Nachdem die DMR-Mitglieder mehrfach darauf hingewiesen wurden, dass die Frauenquote im Präsidium unbedingt erhöht werden sollte, wurden alle 8 Frauen gewählt, aber nur 6 der 14 kandidierenden Männer.

Mein Berufsleben spielt sich seit fast 20 Jahren an der Schnittstelle zwischen Bibliothekswesen, Musikwissenschaft und Informatik ab. Ich bin in allen drei Communities den entsprechenden Fachverbänden beigetreten (Verein Deutscher Bibliothekarinnen und Bibliothekare, Gesellschaft für Musikforschung, Gesellschaft für Informatik). Am wohlsten fühle ich mich in der Community des Musikbibliothekswesens, also in der IAML-Community an der Schnittstelle zwischen Bibliothekswesen und Musikwissenschaft, der ich sowohl auf nationaler wie auch auf internationaler Ebene nun schon viele Jahre angehöre.

Jürgen Diet ist der stellvertretende Leiter der Musikabteilung der Bayerischen Staatsbibliothek und IAML-Vizepräsident.

/1/ Brigitte Geyer: Die Musikbibliothek Peters: ein kulturhistorischer Schatz, in: Forum Musikbibliothek 3/2013, S. 13–18.

/2/ https://www.ismir.net/.

/3/ Jürgen Diet: Digitale Musikbibliotheken– Erfahrungen im Rahmen eines Promotionsprojektes, in: Forum Musikbibliothek 2/2004, S. 169–179.

/4/ Susanne Hein und Jutta Scholl: Adieu, Wolfgang Krueger!, in: Forum Musikbibliothek 4/2007, S. 355–357.

/5/ Susanne Hein: Fachliche Größe, kluge Voraussicht und feinsinniger Humor– Zum Tode von Prof. Wolfgang Krueger (23.6.1942– 16.4.2009), in: Forum Musikbibliothek 2/2009, S.99–100.

/6/ https://variations.indiana.edu/.

/7/ https://experts.illinois.edu/en/publications/imirsel-a-secure-music-retrieval-testing-environment.

/8/ Jürgen Diet und Christian Göhlert: Innovative Erschlie-ßung und Bereitstellung von Musikdokumenten im Probado-Projekt, in: Forum Musikbibliothek 2/2009, S. 114–119.

/9/ https://iaml-deutschland.info/vdm-2.

/10/ https://www.iaml.info/board.


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28 mar 2024

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